Vor knapp 10 Tagen (als es die FTD noch gab) erschien der Artikel “Macht die Arbeit unser Leben kaputt” in der Claus Gorgs und Nikolaus Röttger versuchen Engelchen und Teufelchen zum Thema Work-Life-Balance zu spielen. Versuchen, weil Gorgs pro argumentiert und Röttger sich an der Terminologie stört. Eigentlich sagen beide doch sehr ähnliches:
Das heißt nicht, dass sich jeder nur noch selbst verwirklichen sollte. Lohn setzt Leistung voraus. Aber wir müssen das Umfeld, in dem Leistung entsteht, neu definieren. Den technischen Fortschritt kann niemand zurückdrehen. Es wächst eine ganze Generation heran, die mit permanenter Erreichbarkeit prima zurechtkommt – übrigens auch mit dienstlichen E-Mails am Wochenende. Sie fällt nur nach den gängigen Leistungskriterien durchs Raster, weil sie nicht bereit ist, ihr gesamtes Leben Geld- und Karrierezielen unterzuordnen. Das hat nichts mit Leistungsverweigerung zu tun, sondern mit einer Verschiebung von Prioritäten. Darauf müssen die Unternehmen reagieren, wollen sie nicht eines Tages reihenweise unbesetzte Schlüsselpositionen haben.
Und.
Wir brauchen Chefs, die Verständnis haben, wenn ein Mitarbeiter sein krankes Kind hütet oder ein Streik in der Kita den Dienstplan durcheinanderwirft. Im Gegenzug wird dieser bereit sein, auch mal Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Nur wenn Geben und Nehmen sich ausgleichen, kann eine Kultur des Vertrauens entstehen, die wir für eine moderne Wirtschaft brauchen, in der es keine Frage mehr ist, ob die Work-Life-Balance funktioniert, sondern nur noch, wie.
Und.
Das neue Gleichgewicht ist ein Ausdruck von Selbstständigkeit, das gerade junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um- und antreibt. Darum wird es für Unternehmen entscheidend sein, Work-Life-Balance nicht mehr als Trennung von Job und Leben zu verstehen. Denn das gilt vor allem für die sogenannten Millennials, also all jene, die zur Jahrtausendwende Teenager waren. Sie wollen allein entscheiden, wie und wann sie ihr Projekt machen. Das gaben bei einer Studie von MTV 89 Prozent der Millennials an. Fast genauso viele wollen ihre Kollegen auch als Freunde haben, die überwiegende Mehrheit will in Jeans ins Büro kommen.
Und ich sage dazu: Alles schön und gut, aber wenn der Arbeitgeber nicht gerade Google oder Achtung! heißt, sieht die Welt leider noch ganz anders aus. Ich erinnere hier an meinen vielgelesenen und komplementierten Blogeintrag von vor knapp einem Jahr. Ich schrieb darüber, dass ich es für richtig und wichtig hielt, Raum für wichtiges im Privatleben zu schaffen. Interessanterweise sahen einige Kommentatoren es sogar kritisch, dass ich abends weiterarbeite, wenn tagsüber andere Dinge wichtig sind. Fakt ist aber, dass die wenigsten Unternehmen bereit sind, White Collar Arbeiten so flexibel zu ermöglichen, wie die beiden Autoren das oben beschreiben. Der Arbeitnehmer soll entscheiden können, wie wann und wo er etwas macht? Zuviel Freiraum, den man nicht kontrollieren kann. Am Ende arbeitet er nicht sondern ist die ganze Zeit auf Facebook oder geht Kaffee trinken. Dabei ist vollkommen egal, dass die Kollegen im Büro genau das machen: Morgens ankommen, erstmal eine halbe Stunde Kaffee kochen, dann gucken was auf Facebook so geht, eine Rauchen, Facebook und dann unvorbereitet ins erste Meeting. Und weil es inzwischen kurz vor zwölf ist kann man sich schon mal über das Mittagessen austauschen. Und deshalb muss man dann auch um 18 Uhr noch All-Hands-Meetings machen, weil man vorher nix geschafft hat. Polemik? You tell me.
These: So lange der Chef nicht selbst in der im 2. Zitat beschriebenen Lage war UND dies selbst lebt (statt es nur zu erlauben aber in der eigenen Familie die Frau alles machen zu lassen), wird seine Geduld sehr endlich sein.
Das erste Zitat liest sich – zumindest nach meiner Erfahrung der letzten Wochen – wie eine Utopie. “Das hat nichts mit Leistungsverweigerung zu tun, sondern mit einer Verschiebung von Prioritäten. Darauf müssen die Unternehmen reagieren, wollen sie nicht eines Tages reihenweise unbesetzte Schlüsselpositionen haben.” Es wird immer Leute geben, die mit Elan ins Hamsterrad springen. Das mögen dann nicht immer die besten für den Job sein, aber Hand aufs Herz, als ob das immer der Maßstab wäre…
Ich wurde in Bewerbungsgesprächen dafür gelobt, offen über meine Vorstellung der Arbeitsgestaltung zu sprechen, aber oftmals war das finale Urteil: Wir finden das gut, definitiv auch sinnvoll, können es dir aber nicht bieten (aka: wir suchen Hamster). (Ergänzung: Von der Überlegung “30 Woche” oder so etwas ganz zu schweigen.) Mag sein, dass das auch eine Frage der Branche ist, aber wenn über dieses Thema gesprochen wird, hört es sich meist so an, als ob flexibleres Arbeiten für alle guten Leute an jeder Straßenecke zu finden ist. Und das ist es einfach noch nicht, noch lange nicht. Freelancer, Programmierer und Geschäftsführer können das vielleicht umsetzen, alle anderen fragen sich, ob die Autoren träumen und in einem Paralleluniversum leben.
Um komplett zum Artikel zurück zu kommen: Macht die Arbeit unser Leben kaputt? Natürlich nicht, Arbeit gehört nunmal zum Leben dazu. Man muss sich irgendwie arrangieren, und idealerweise findet man eine Beschäftigung, die einem richtig viel Spaß macht dabei flexibel genug ist, um ein Modell mit Zeit für sich selbst, Familie etc. zu erlauben. Letzteres ist allerdings wie gesagt deutlich schwieriger, als der Artikel darstellt.
(PS: und falls sich jetzt jemand fragt, ob ich gerade auf der Jobsuche bin/dabei bin mich umzuorientieren, bingo, ja. Und nein, ich bin übrigens kein Social Media Berater)
3 Comments
Sven Peters
Cooler Artikel, Schnipp. Zum Glück habe ich genau den im Artikel beschriebenen Arbeitgeber gefunden…
Hast du dich schon mal mit dem Stoos Netzwerk beschäftigt, oder mit dem Mangement 3.0 von Jurgen Apello? Ziemlich coole Sachen! Kommt allerdings wieder aus der Programmierrichtung…
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