„Gibt’s was Neues?“ Das ist dieser Tage die Kernfrage immer dann, wenn einer von uns aus dem Offline in den Onlinebereich tritt. Es passiert gerade sehr viel sehr schnell in der Türkei. Und relativ wenig in unserem kleinen Gartenhaus.
Wo waren wir letzte Woche? Ach ja, Wiedafon, Frisör, Schach und Boris Johnson ist Außenminister. Christiane ist Freitag wie normal im Büro, ich arbeite wie normal, die Kinder spielen normal. Wir essen, vermutlich Börek, gucken Gilmore Girls, sind müde und gehen ins Bett. Am nächsten Morgen ist alle anders, die folgenden paar Absätze habe ich schon mal so ähnlich auf Facebook geschrieben.
Wie man einen Putsch verschläft für/wie Anfänger
Wir haben jetzt gelesen was passiert ist und können uns äußern – zumindest dazu, wie wir das wahrgenommen haben. Zunächst die Zeitverschiebung. Ihr lest/hört gegen 22:00 oder 22:30 davon, da ist es hier eine Stunde später und wie liegen im Bett. Ich liege schon seit 21 Uhr eurer Zeit im Bett und weil das Internet wieder löchrig ist, lese ich ein Buch und bin nicht mal online.
Dann gut zu wissen: Die Bosphorus-Brücke ist knapp 10 Kilometer weg von uns, das ist ca Altona bis Rathausmarkt, inklusive Stau.Wir schlafen mit offenem Fenster nach Asien raus, also in die andere Richtung. Gegen 3:30 Uhr werde ich wach, weil der Muezzin ruft. Das macht er immer um die Zeit, nichts besonderes. Wieder einschlafen dauert, ich höre Martinshörner, aber denke mir nix dabei, warum auch – ich weiß ja von nix. Irgendwann wieder eingeschlafen, wieder aufgewacht, wieder ruft eine laute Stimme. Komisch, der Muezzin ist eigentlich noch nicht dran, aber wie das so ist, wenn man die Sprache nicht versteht… Im Nachhinein weiß ich, dass ich auch Tiefflieger gehört habe und mich wunderte, dass die nachts fliegen dürfen… wieder eingeschlafen. In dieser ganzen Zeit nicht einmal aufs Handy geguckt, ist hier in der Türkei ja auch immer auf lautlos eingestellt, was soll nachts schon sein…
Gegen 8 Uhr aufgewacht, oh, zwei Anrufe vom Chef, Nachricht auf der Mailbox, was ist los? Erstmal Internet anmachen… Hotspot mit dem türkischen Telefon und plumps, so viele Nachrichten habe ich sonst nur an meinem Geburtstag. „Geht es euch gut?“ – Ich dreh mich um, „hast du auch …“ „ja, ich auch.“ „War ein Anschlag, haben wir was ver…“ „Putsch!“
Plötzlich bekommen die Geräusche der Nacht eine andere Bedeutung. Eine Email vom Auswärtigen Amt, wir sollen die Gebäude nicht verlassen.Gerade hat wieder der Muezzin gerufen, normal zum Gebet. Ab und zu hören wir Krankenwagen und Polizeiwagen vorbeifahren, lesen Twitter und Nachrichtenseiten und versuchen nebenbei den Alltag aufrecht zu erhalten. Christiane chattet mit Kollegen, stimmt ab. Und, nein, wir gehen natürlich nicht wie geplant ins Museum…
Tja. Inzwischen wissen wir, dass der Muezzin quasi die ganze Nacht durch gerufen hat. Das Volk aufgefordert hat, auf die Straße zu gehen und sich den Putschisten entgegen zustellen. Und das war auch noch am Samstag so, dann kam auf der Aufruf, die ganze Woche über abends auf die Straße zu gehen. Das machen die auch, inklusive Autos/LKW die bis in die frühen Morgenstunden hupen. RTE spricht diese Woche zweimal in 1km Luftlinie von uns, an unserer Bushaltestelle Kisikli. Da hat er ja auch sein Haus. Deshalb ist die Straße gesperrt, deshalb muss Christiane diese Woche mit dem Taxi zur Fähre fahren. Wir kleben Samstag an Whatsapp und Facebook und Twitter, ich gehe einmal kurz Nudeln mit Tomatensoße kaufen. Aber erstaunlich schnell ist wieder Business as Usual. Klar, wir wohnen im konservativen asiatischen Stadtteil aber schon am Sonntag ist wirklich alles wieder wie vorher.
Jedenfalls scheint es so. Da wir kein Türkisch sprechen erfahren wir höchstens von unserer Vermieterin, wie es hinter der Fassade aussieht. Im Supermarkt und beim Kaufmann um die Ecke ist jedenfalls alles herzlich wie immer. Ab Feierabend geht’s dann los, die Leute gehen auf die Straße, jeden morgen wieder mit einer SMS dazu aufgerufen, es wird gehupt, Sirenen gehen (scheinbar darf man hier polizeiähnliche Hupen/Tonsignale haben). Wirklich jeden Abend, bis in die Nacht. Manchmal halte ich das mit Snapchat fest.
Die Kinder und ich verlassen diese Woche den Stadtteil nur einmal. Öffentliche Verkehrsmittel sind kostenlos, die Regierung dankt dem Volk damit für den Einsatz Freitagnacht. In der Gegend um den Galata-Turm ist alles wie immer, wir essen im Privato Café in einer Nebenstraße sehr lecker Frühstück/Mittag, allein die Händler scheinen noch eher bereit, sich runter zu handeln. Geschäft mitnehmen, so lange überhaupt noch Kunden da sind? Man weiß es nicht.
Information ist zurzeit das A&O, wobei hilfreiche Informationen kaum zu bekommen sind. Das Auswärtige Amt hat sich nach den zwei Mails Samstag nicht mehr gemeldet, d.h. offizieller Status Quo ist „bleiben Sie wenn möglich in ihren Unterkünften, meiden Sie öffentliche Plätze.“ Die deutschen Medien schreiben die großen Headlines von einander ab, jede mit ihrer eigenen Färbung. Fake, Putin, USA – alle sind irgendwo schuld. Es gibt Panikmacher, es gibt Laissez Faire-isten. Die türkischen Medien verstehen wir nicht, wobei eh alle staatsnah schreiben, alle anderen wurden aus dem Verkehr gezogen. Ich habe mir eine Twitter-Liste mit Korrespondenten angelegt, von denen ich glaube, dass sie mir am ehesten nützliche Infos bringen könnten, das hilft etwas, viel hören wir aus Christianes Netzwerk.
Fazit: Kannste dir nicht ausdenken…
Iyi Günler!