<Kreis>Ich erinnere mich nicht wirklich an die Werte-Diskussion bei uns zu Hause, nur das meine Mutter mich manchmal darauf hinwies, dass ich mich gerade selber belügen würde.
Der gestrige Artikel von Stefan Niggemeier (oder Nils Minkmar?) ist dazu äußerst zitierwürdig. Zwar ist der Nutzen einer Selbstlüge für Medien deutlich größer als für mich als 9-jähriger, zeigt aber gleichzeitig, dass die eigene Reflexionsfähigkeit (tatsächlich die Fähigkeit dazu, nicht die Bereitschaft) ebenfalls proportional zum Nutzen nachlässt (bezogen auf die Medien, nicht Niggemeier). Anders kann ich mir das nicht erklären:
Zitatbeginn, eingerückt der Text der WamS.
Letztlich aber sind es nicht einmal, wie die linke Kulturkritik meint, „die” Medien, die dem Täter zum Ruhm verhelfen. Es sind Krethi und Plethi, die das (oft mit medialer Hilfestellung) besorgen. Und das ist, wenn man will, ein Demokratisierungserfolg. Konnten früher medial nur die Privilegierten, also die journalistischen Fachleute, mithalten, hat das weltweite Netz, das alle mit allen verbinden kann, im Prinzip jeden Einzelnen zum Wirklichkeitsdeuter und -bildner gemacht. Dass Tim K. heute eine populäre, in der ganzen Welt bekannte Gestalt ist, ist auch eine Folge von user generated content.
In vielen digitalen Galerien wird die Tat von Tim K. aufbewahrt, wird die Erinnerung an ihn gepflegt werden. Seine Motive mögen die gleichen sein wie die eines Attentäters von 1907. Neu ist, dass man heute mit Taten wie diesen binnen Stunden den Laufsteg der Unsterblichkeit betreten (und sich von der Mühsal des Alltags verabschieden) kann. Vielleicht besitzt dieses Angebot, an dem Millionen von usern mitweben, eine metaphysische Anziehungskraft. Ist es vorstellbar, dieses wahrhaft massenmediale Angebot wieder zurückzuziehen?
Was für ein hanebüchener Unsinn: Nicht die Massenmedien verhelfen dem Täter zum verführerischen Ruhm, wenn sie in Millionenauflage über ihn berichten und einen nicht enden wollenden Strom von Bildern, Illustrationen, Videos, Fakten und Scheinfakten produzieren, sondern Krethi und Plethi (wie der „Pöbel” offenbar mit Vornamen heißt), die dieses ganze Material dann verlinken, in ihr StudiVZ-Profil stellen und auf YouTube mit kitschiger Musik unterlegen?
<Einschub SK> Klartext – wie sind denn die Bilder, Videos etc. in Umlauf gekommen? Doch nicht, weil jemand mit eine Flip-Cam dabei war, sondern weil die Medien berichtet haben. Volle Kanne, deshalb heißt es ja auch “Broadcast”. Wer zufällig TV geschaut hat durfte miterleben, wie Stunde um Stunde mit den selben 60 Sekunden Originalmaterial gefüllt wurden. </EinschubSK>
So unverschämt ist das Heilsversprechen beim Kampf gegen die digitale Revolution selten formuliert worden: Wenn wir nur die Zahnpasta zurück in die Tube brächten und das Publizieren wieder den Profis überließen, könnte die Welt eine bessere sein. (Und den Journalisten ginge es auch besser.)
Um dieses Ablenkungsmanöver in all seiner dreisten Verlogenheit würdigen zu können, muss man allerdings sehen, wie der Artikel des „Welt am Sonntag”-Chefredakteurs in der Zeitung aufgemacht war.
So:
(Verpixelung von Stefan.)
Testfrage: Wen zeigt das große Foto neben den Worten „Die Unsterblichkeit des Amok-Täters”, das keinen weiteren Bildtext hat?
Nein, es zeigt nicht den „Amok-Täter” Tim K. Der Junge auf dem großen Foto, den der unbefangene „Welt am Sonntag”-Leser für den Amokläufer halten muss, ist ein namenloser trauernder Junge bei einem Gottesdienst für die Opfer in Winnenden.
Diese Medien haben allen Grund, von ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.
<Nachlese>Für diese Fotoplatzierung mit Überschrift müsste es eigentlich eine Watschen vom Deutschen Presserat geben, da hier mindestens die Persönlichkeitsrechte des abgebildeten Jungen extremst verletzt werden. Dieter Bohlen darf in einer überzogenen Sendung nicht überzogen reden. “Seriöse” Tageszeitungen aber unseriöse Argumentationsketten bilden?
Am extremsten, geschicktesten, ekligsten finde ich die Wortwahl des Autors, Thomas Schmid, wenn er schreibt, dass der Amokläufer nun in der Hall of Fame sei. Erstens wird hier eine Korrelation von Ruhm und Ehre, gar Verehrung zu Feigheit und Gewalt hergestellt, zweitens en passent ein Bezug zu “Killerspielen” hergestellt. Ich würde das Manipulation nennen. Oder mangelnde Reflexionsfähigkeit.</Kreis>